1984
so heisst der berühmte Roman von George Orwell. Beendet 1948. Deshalb der Zahlendreher. Von mir gelesen 1974 zum ersten Mal und im Januar 2024 zum zweiten. Der Roman handelt von einem autoritären Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger unter totaler Kontrolle hält. Mittels «Geräten» werden sie überwacht, die Gedankenkontrolle ist absolut und die Geschichte wird täglich angepasst und umgeschrieben, Geschichtsfälschung par excellence. Der Roman ist entstanden unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, des Faschismus und des Stalinismus.
Was sich Orwells Diktaturszenario unter «Geräten» vorstellte sind beispielsweise Überwachungskameras in die privatesten Räume und auch die Gedanken eines Menschen sind niemals frei. Nur schon, wer für den Blick eines eventuell autonomen Mitmenschen empfänglich ist, ist verdächtig. Denn da könnte eigenständiges Denken entstehen oder Gefühle und Humanität. Solche Kapriolen entziehen dem autoritären Staat die Kontrolle.
Orwells Fiktion ist apokalyptisch. Der Mechanismus, wie das Menschsein in einer Diktatur verloren geht, jedoch real.
Seit bald achtzig Jahren leben wir im Herzen von Europa in den freiesten aller Welten seit Menschengedenken. Gewohnt, seine Meinung auszudrücken, die Grundrechte als Garantie zu sehen, die Demokratie mitzugestalten, kommen wir gar nicht auf die Idee, es könnte jemals anders sein. Stammt daher die Gleichgültigkeit gegenüber den zunehmend aufkommenden antidemokratischen Bewegungen?
Die Schriftstellerin Herta Müller, die in Rumänien aufgewachsen ist und für ihr Werk, das aus den grausamen Erfahrungen mit einem autoritären Staat entstanden ist, mit dem Nobelpreis gewürdigt worden ist, sagte kürzlich in der NZZ im Hinblick und in grosser Sorge auf die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber demokratiefeindlichen Bewegungen: «Gespenstisch ist heute vor allem die Idee eines identitären Staates, eines neuen Nationalismus. Geschichtsvergessenheit kann offenbar durch eine lange Zeit der Freiheit entstehen. Plötzlich gibt es das Bedürfnis nach dem Gegenteil von Freiheit. Ich weiss nicht, wie das funktioniert. Ich habe immer gedacht, in Diktaturen wird man planmässig verblödet und in Demokratien muss man planmässig nachdenken, weil man ja die Freiheit hat, Entscheidungen zu treffen. So entstehen Individuen.» Und dann fügt sie hinzu: «Wie ist im freiheitsliebenden Amerika jemand wie Trump möglich, der mit dem diktatorischen Regierungsstil nicht einmal nur sympathisiert?»
Eben haben in Moskau Tausende von Menschen, gekommen aus allen Landesteilen, der Beerdigung des Freiheitskämpfers Alexej Navalny beigewohnt. Dies trotz schwerster Bewachung der russischen Polizei, die ihr maximales Einschüchterungspotential hochgefahren hatte. Überall filmen sie, patrouillieren, schikanieren, brüllen herum. Einmal so mutig sein, wie diese Menschen, denke ich.
«Die Gedanken sind frei» ist ein deutsches Volkslied über die Freiheit des Gedankens. Entstanden um 1800. Eine Strophe hiess:
Ja, sperrt man mich ein, im finsteren Kerker,
So sind das doch nur, vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken, zerreissen die Schranken
Und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei.
Nicht nur Pathos, nein bitterer Ernst.
Ich zitiere einen Leserbrief aus der Aargauer Zeitung von Aligimantas Gegeckas aus Windisch. «Alexej Navalny ist vom russischen Regime im wahrsten Sinne des Wortes mundtot gemacht worden. Er ist zum Märtyrer des klaren Wortes geworden. Vielleicht öffnet diese Tat jetzt auch denjenigen die Augen, die sie bei den bisherigen Ereignissen tapfer geschlossen hielten und die Brutalität des Regimes immer noch nicht sehen wollten.»
1984 ist ein Roman über den Terror von Diktaturen über Individuen. Die Auslöschung des Menschseins. Den Tod der Freiheit. Die Vernichtung des eigenständigen Denkens.
Eigenständiges Denken jedoch ist der Tod der Diktatur. An Navalnys Beerdigung fielen Sätze wie: «Zu lange bin ich zu Hause gesessen und habe gedacht, irgendeiner werde es dann schon machen, dass sie in einem freien Land leben könne. Aber nein, ich bin es selbst, die dafür einstehen muss.» Oder: «Wir sind uns der Risiken bewusst, in einer Diktatur leben zu müssen, aber wir sind nicht allein. Das stärkt».
1984 ist ein Roman über die Auslöschung der Geschichte und der Fakten. Die Beerdigung der Freiheit. Vorbereitet wird die Auslöschung der Freiheit mit Propaganda. Auch in freien Staaten. Hitler wurde in aller Freiheit gewählt. Das dritte Reich in aller Freiheit errichtet. 1984 ist ein Roman über Gehirnwäsche. Navalny widerstand ihr. In einer Diktatur. Wer bei uns den «Waschgang» stoppen will, kann das «noch» in aller Freiheit tun.
Tun wir es. Bevor es zu spät ist. Das wäre Navlanys Vermächtnis.