Liebe Kinder,
gerne möchte ich euch einmal speziell ansprechen in einer Rede am 1. August und nicht immer nur eure Eltern. Als Kind freute ich mich immer sehr auf diesen Tag, Ich erinnere mich an die Feiern, ich im Sonntagsrock. Dem schönsten Kleid, das man hatte, sagte man so…Ich erinnere mich an Lampionumzüge und langes Aufbleiben. Ich erinnere mich zwar auch an meine Brüder, 1. August-Pyromanen von Weltklasse, die allen immer Knallfrösche vor die Füsse schossen. Einmal, mitten in einer 1. August-Rede gingen einem meiner Brüder ein ganzer Satz Frauenfürze los. Es hatte einen Fremdgänger dabei, der meiner Schulkameradin ein Loch in ihr Kleid brannte. Die Rede musste kurz unterbrochen werden. Das war besonders erfreulich auch für meinen Vater. Es war nämlich der Redner.
Liebe Kinder,
Ihr seid diejenigen, die in zehn, in zwanzig, in dreissig Jahren die Schweiz gestalten und bestimmen. Deshalb meine Aufforderung: Interessiert euch für die Politik. Interessiert euch dafür, was passiert. In eurem Dorf. In eurer Stadt. In eurem Land. In der ganzen Welt. Jetzt schon! Lest Zeitungen. Schaut Nachrichten. Diskutiert mit euren Eltern. Ihr sagt jetzt vielleicht, Politik sei doch langweilig. Aber ihr steckt selbst mittendrin. Politik findet überall statt. In der Familie. In der Schule. In den Vereinen. Beim Sport. Ihr seid Teil davon. Alle seid ihr junge Politikerinnen und Politiker, welche Interessen vertreten, und eigene Ideen haben.
Politik bedeutet: Wie gestalten wir unser Zusammenleben? Wie lösen wir Probleme? Wenn ihr mit dem Bruder Krach habt, der Schwester? Dann ist das Politik. Wenn die Schwester den Bruder anschreit, oder umgekehrt, oder schubst, dann ist das Politik. Ob es gute Politik ist, ist selbstverständlich eine andere Frage. Denn dann wird wohl zurückgeschubst. Oder beide gehen zu den Eltern, um sich zu beklagen. Die Eltern wiederum, als höhere Instanz, versuchen der Sache auf den Grund zu gehen. Sie stellen den Bruder zur Rede. Der sagt, seine Schwester, die dumme Kuh hätte sein Handy versteckt. Die Schwester sagt: «Ja, aber nur, weil du mir meine Kopfhörer geklaut hast.» Sagt er: «Stimmt ja gar nicht und was ist mit dem Handykabel? Hast du verloren!» Das geht dann so weiter, hin und her, bis es den Eltern reicht und sie eine politische Massnahme ergreifen: beide müssen für zwei Tage das Handy abgeben. Das ist dann in einem gewissen Sinne ein Regierungsentscheid.
Man kann solches aber auch vermeiden und die Sache unter Geschwistern selber lösen. Die genervte Mutter oder den Vater auslassen. Ein Wort gibt dann das andere. Ein Argument das andere. Voilà, schon mache ich Politik. Stehe ich mitten in der demokratischen Auseinandersetzung, im demokratischen Prozess, in der sehr und im wörtlichen Sinne «direkten Demokratie». Und dann findet man eine Lösung im gemeinsamen Interesse, nehme ich einmal an. Beide wollen ja schliesslich das Handy wiederhaben.
Junge Menschen, ihr habt eine Zukunft in Lebensjahren vor euch, die es noch nie in der Menschheitsgeschichte so gegeben hat. Man stelle sich das einmal vor: jeder Mensch, der im Jahre 2023 geboren wird, hat eine Chance hundert Jahre alt zu werden. Vor allem, wenn er ein Mädchen ist. Wieso wir Frauen länger leben, ist noch nicht abschliessend erforscht, aber ich würde es einmal rein wissenschaftlich gefolgert, so zusammenfassen: irgendwie macht es offenbar Sinn…;-)
Liebe junge Menschen, ihr werdet profitieren von immer besseren Entwicklungen in allen Bereichen. Wenn man nur schon an die Digitalisierung denkt. Heute läuft jeder mit einem Computer in der Hand umher, der Daten fassen kann, die früher Speicher brauchten in der Grösse eines Hauses. Wer hätte sich diese Vernetztheit vorstellen können. Diese Entwicklung in der Kommunikation. 1931 schrieb Erich Kästner den Roman, «Der 35. Mai». Dort beschrieb er, dass die Menschen einmal so weit sein werden, dass sie «mittels eines Telefons auf jedem Punkt der Erde immer erreichbar sind». Er zeigt es an einem Mann, der «ein Telefon aus der Tasche zog, eine Nummer hineinsprach und dann zu seiner Frau sagte: «Gertrude, mir ist eben eingefallen, dass ich noch schnell ins Büro muss. Warte noch eine halbe Stunde, bis du mir das Mittagessen servierst.» Kästner sah das alles grossartig voraus, getäuscht hat er sich lediglich im Rollenbild zwischen Frau und Mann. Man stelle sich einmal vor, dass sich heute ein Mann an den Tisch setzt und zu seiner Frau sagt: «Trudi, servier mers ässe.» Sie würde sagen: «Du chaschmi filme…»
Also, liebe junge Menschen, liebe Kinder, ihre seid die Zukunft. Vertretet eure Interessen. Wer nicht mitmacht, mit dem wird gemacht. Interessen vertritt man kaum so lebhaft und so sensationell einmalig wie in einer direkten Demokratie. Die direkte Demokratie, so wie wir sie sie haben in der Schweiz, ist weltweit einmalig. Es bedeutet nämlich, dass jede einzelne Bürgerin und jeder einzelne Bürger mitentscheiden kann. Also auch ihr, wenn ihr erwachsen seid. Wir müssen in der Schweiz nicht einfach das tun, was die Regierung will, wir müssen nicht blind gehorchen, wir können auch gegen Regierungsentscheide sein. Deshalb müssen sich die Politikerinnen und Politiker in der Schweiz grosse Mühe geben, wenn sie die Menschen, von dem, was sie wollen, überzeugen wollen. Überfahren können sie sie nicht. Dies aber nur, wenn sich die Menschen für die Politik interessieren und stimmen und wählen gehen. Abseitsstehen und dann motzen, geht nicht. Stellt euch einmal vor, eure Lehrerin macht ein paar Vorschläge, wohin die Schulreise gehen könnte, und ihr dürftet mitentscheiden. Und dann sagt ihr, es sei euch eigentlich egal. Dann könntet ihr ja nicht, einen Tag lang sauer sein, wenns euch dann doch nicht passt, was die Lehrerin organisierte.
Glaubt also keinem Erwachsenen, der sagt, die da oben machen sowieso, was sie wollen, deshalb gehe ich auch nicht stimmen und wählen. Sagt denen, nur wenn ihr nicht stimmen und wählen geht, machen die da oben, was sie wollen. Mahnt die Erwachsenen, dass sie in ihren Entscheiden verantwortlich denken müssen für eure Zukunft. Da geht es beispielsweise um unsere Umwelt. Genügend Wasser. Eine saubere Luft. Eine sichere Energieversorgung. Da geht es darum, dass wie bei euren Grosseltern, auch eure AHV gesichert ist. Da geht es um eine gute Schulbildung für alle. Da geht es um den guten Umgang aller Menschen in unserem Land miteinander. Und um ganz vieles mehr.
Wir leben in einem Land, das jedem Menschen eine grosse Freiheit gibt. Dass dies so ist, dafür bin ich allen dankbar, die sich dafür einsetzten und einsetzen. In der Vergangenheit und in der Gegenwart. Und vor allem danke ich jetzt schon allen, die sich in Zukunft dafür einsetzen und dieses Land gestalten. Nämlich euch Kindern. Bereitet euch also vor, politisiert schon jetzt. Bald könnt ihr auch selbst bestimmen. Ich freue mich darauf.
Ich freue mich auf euch im Bundeshaus.