Ich komme mit den gleichen Gefühlen heute im Jahr 2021 an diesen Ort, wie damals, als ich in die Bezirksschule Turgi eintrat. Im April 1970. Mit guten und erwartungsvollen. Ich danke Ihnen für die Einladung. Ich freue mich.
Frühling 1970 im Singsaal der Bez Turgi. Vorne Karl Baldinger am Flügel. Der Musiklehrer. Er spielte einleitende Akkorde und aus den Kehlen der älteren Schüler dröhnte das Sempacherlied. Dann rief Karl Frauchiger, der Rektor, die neuen Bezler namentlich auf. Man musste aufstehen. Ein karrieremässiger Paukenschlag, als mein Name an die Reihe kam. Marianne Keller! Da war ich nun also in der Bez Turgi. Hinabgegangen von Untersiggenthal. Hinaufgestiegen nach Turgi. Ich meine, nur schon, dass Turgi einen Bahnhof hatte mit direktem Anschluss an die Welt. Baden.
Der Rektor stellte den Lehrkörper vor, der sich rechts neben dem Flügel befand. Unter anderem – ich nenne sie deshalb, weil sie sich danach um unsere Bildung bemühten – die Herren: Walter Fausch. Walter Biedermann. Bruno Bolliger. Bruno Schmid. Und: Fräulein Sommer. Sie bestand auf der Anrede, unterrichtete Hauswirtschaft und dank ihr kenne ich das lebensbestimmende Wort «Kalorien». Und Wienerli im Blätterteig. Zwei Jahre später schwebte göttlich herbei, auch Frau Götti, unsere Lateinlehrerin. Errare humanum est, tröstete sie und lieferte den 13-jährigen Menschenkindern die Argumentation für leistungsmässig durchzogene Schullaufbahnen. Was konnte ich für meine?
Zurück zum ersten Tag an der Bez Turgi. Mitten im Inaugurationsverfahren krachte es. Schüler der hinteren Reihen hatten anderen den Stuhl weggezogen. Max Frauchigers top trainierter Lehrkörper rückte sofort aus, stellte die Stühle wieder auf und die Schüler vor den Saal. Law and order! Ich habe mich dieser Doktrin eine Schulzeit lang widersetzt. Aber sie ist mir hängengeblieben. Als junge Primarlehrerin habe ich feststellen müssen, irgendwie hat man als Lehrperson ja eine Botschaft. Dumm, wenn sie keiner hört. Ruhe im Auditorium fand ich kein schlechtes Konzept. Und aus politischer Sicht: ich möchte dem heutigen Abend keine zu verbissene Note geben, und die gibt es oft, wenn Politiker politisch werden, aber law and order ist keine so schlechte Sache, solange der Rechtsstaat damit die grösstmögliche Freiheit für alle schützt.
Mit der Freiheit haben wir uns an der Bildungsstätte Bezirksschule Turgi auseinandergesetzt.
Indem der Freiheit ständig Grenzen gesetzt wurden.
Indem wir die Grenzen ständig zu sprengen versuchten.
Indem die Lehrpersonen selber in diesen Siebziger Jahren nicht genau wussten, innerhalb welcher Grenzen sie mäanderten. In ihren traditionell übernommenen, willkürlich gesetzten für die Schülerinnen und Schüler oder in den unwillkürlichen Grenzziehungen jener Zeit? Wer konnte sie denn in den pädagogisch verwirrlichen nach 68 genau definieren? So beschäftigten wir, die wir Kinder waren, uns mit einer Lehrerschaft, geprägt von deren Erziehern, geboren um und vor der Jahrhundertwende. Hast du’s nicht gesehen konfrontiert mit der Reformpädagogik. Diese war radikal, irritierend und wie wir wissen, teilweise gewalttätig. Da musste man sich in Turgi erst einmal zurechtfinden mit der neuen Zeit. Kein Wunder war man skeptisch.
Unsere Lehrer, knapp vorbeigeschrammt an den 68ern, im Outfit der Siebziger, nur schon diese Hosen, rauchten in den Pausen im Schulhaus vor den Schülern, um quasi mit der Zigarette in der Hand, Schüler zu bestrafen, die sie beim Rauchen erwischten. Sie erschienen, Anwesende selbstverständlich ausgeschlossen, nach all den vielen fünf-Minuten Pausen weitere Minuten verspätet in den Klassenzimmern, aber wehe, wir waren zu spät! Strukturierter und anspruchsvoller Unterricht, eine Schule mit Lernerfolgen und ein Stundenplan voll Zigipausen. Bez Turgi.
Im Einzelnen zum Lehrkörper:
«Me, te, le, se», diktierte Walter Biedermann die Reflexivpronomen, und ich erkläre gerne, dass ich nach der Bezirksschule Turgi besser französisch sprach als vier Jahre später nach der Mittelschule. Heute bekomme ich von Romands Komplimente, weil ich es so genau nehme mit «si j’avais, dann j’aurais». Sie selbst nehmen das lockerer.
Bruno Schmid, Geschichte, teilte uns ein Sudelheft und ein Reinheft aus. Er baute auf das repetitive und visuelle Lernen. Man notiert das Gehörte im Sudelheft und dann vertieft man es, indem man es ins Reinheft übertrug. Nur, weshalb musste er meinem Vater mein Sudelheft, das ja offiziell Sudelheft hiess, zukommen lassen mit der Frage, was er dazu meint. Zum Gesudel! Mein Vater wusste es auch nicht und unterschrieb. Eingesehen: Toni Keller.
Bruno Bolliger, mein Mathematiklehrer. Bei seinen Erläuterungen war das Wort «Variante» eine Konstante. Die Silbenfolge riss mich permanent vom Sitz als passiv Lauschende. Ich dachte, er meint mich. Auch da muss ich sagen: was der eine Bruno in französisch, neben dem anderen Bruno in Mathematik, uns an Wissen näherbrachte, es blieb für die nächsten vier Jahre unübertroffen. So, dass, als ich mich auf meine erste Stelle als Primarlehrerin bewarb, der Badener Schulpflegepräsident Hans Süsstrunk zur Schulpflege sagte: «Ja, ihre Mathematiknote am Lehrerseminar ist nicht berauschend, aber den Turgemer Bezirksschulstoff beherrscht sie. Das reicht fürs erste.» Er garantiere, dass es gut kommt mit mir.
Man muss wissen, Süsstrunk, der Schulpflegepräsident, war gleichzeitig auch mein Mathelehrer am Lehrerseminar Wettingen gewesen. Vor allem aber Professor an der Universität Bern, ein international anerkannter Geophysiker mit nicht immer ganz stufengerechten Vorstellungen der Vorstellungskraft von Mittelschülern. Es sei ihm deshalb verziehen, dass die Gleichungen an unserer Wandtafel oft unerschlossen blieben. Aber August Süsstrunk war ein Schulpflegepräsident, der sich Zeit nahm, von Bildung etwas verstand, der Menschen beurteilen konnte und mochte. Ich bedaure, wie Barbara Baldinger und Bruno Bolliger dies im Interview sagten, die Abschaffung der Schulpflegen im Kanton Aargau. Mir hat noch niemand erklären können, was daran gut sein soll, auf eine Behörde zu verzichten, die sich eigens um das Wohl der Schulen und die Bildung kümmert.
Und nun, mein Deutschlehrer Walter Fausch. Er schätzte meine Aufsätze, was heisst: er verstand etwas von Sprache… Er stärkte mein Selbstvertrauen, indem er meine Aufsätze lobte und vorlas. Für den Rest der Zeit stellte er mich sporadisch vor die Türe, denn unsere Auffassungen von aktiver Beteiligung am Unterricht gingen wesentlich auseinander. Ich komme auf ihn zurück.
Denn: nochmals Karl Baldinger. Die Freiheit. Und das Sempacherlied.
Es war «ein Lied aus alter Zeit, von kühner Ahnen Herrlichkeit, von Speerwucht und wildem Schwertkampf, von Schlachtstaub und heissem Blutdampf.» Es war «ein heilig Lied, es galt dem Helden Winkelried.»
In einer dreieckigen Schlachtformation, «im Stahlkleid, gar grausig furchtbar, stand Österreichs geübte Kriegsschar», und die Eidgenossen stürzten sich «mit freier Brust, im Herzen Mut und Siegeslust» in den Stahlverhau, wo man in «Schlachtwut dumpf brüllend sich wälzt im Herzblut».
«Es trotzt das Heer, die Not wird gross, und mancher stirbt vom Speeresstoss». Ein Durchbruch durch die feindlichen Linien wird unwahrscheinlich, doch die Unsrigen sind auch in bedrängten Situationen um freche Sprüche nicht verlegen: «Es kühlt der Tod bald euren Mut, in unsrem Land wallt Schweizerblut, in kurzem bringt euch blutigrot, ein Eidgenoooos das Morgenbroooot!» Wir brüllten unterdessen.
Höhnisch lachen die Feinde. Doch sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn: «Erhaltet mir Weib und Kind, die mir schon lang verleidet sind!» ruft Struthan, (altes Wort für Streithahn) ergreift mit Mannskraft, drückt niiiider der langen Speerschaft, gräbt`s in die weite Hel-den-bruuuust, mit Gott der Freiii-heit siiiiich bewuuuuusst» und mindestens fünfzehn Öesterreicher schweben am anderen Ende der Speere wie Cervelats am Stecken hoch über dem Getümmel der Schlacht. Man muss sich das einmal vorstellen!
Der Weg ist frei, der Singsaal kocht «und über die Leiche triiiiitt, das Heldenvolk im Sturmesschritt. Der Schwertschlag erblitzet furchtbar; im Helmglanz erbleicht die Mordschar, und es erdröhnt von Berg und Tal der freien Nachwelt Siegeshall.»
Die Turgemer Nachwelt im Singsaal war nicht mehr zu halten und falls im Einzugsgebiet der Bezirksschule Turgi später der EWR abgelehnt werden würde, müsste sich niemand wundern. Schliesslich ging es um Europa und wir kennen ein paar, die dort wohnen… Erst viel später in der vierten Klasse kratzte einer am Image des Rambos aus Sempach und fragte: «Herr Baldinger, stimmt es, dass Winkelried gar nicht rief ‹Erhaltet mir Weib und Kind!› Sondern was für en Tubel schüpft vo hinde?» Der Witz war alt, wir fielen vor Lachen trotzdem beinahe vom Stuhl.
Als ich in die Bezirksschule eintrat, wurde gerade der letzte Kadettenhauptmann gewählt. Die sogenannte Kaderwahl. Und damit war ich auch zum ersten Mal auf einen Ball eingeladen. Ich weiss nur noch, was ich für Schuhe trug. Schwarze Lackschuhe mit einem Bändeli über dem Rist und dazu weisse Kniesocken. Mein Vater fuhr mich hin und holte mich schnell wieder ab. Dazwischen tigerte er um die Schule. Ich weiss nicht, was er sich genau vorstellte, was da an Unheil seinem Töchterchen passierte. Auf jeden Fall fand ich meinen ersten Ball berauschend. Der Kadettenhauptmann war der Held. Er hiess Urs Haensler. Er tanzte mit seiner langhaarigen Freundin, einer Vierbezlerin, die ich, wie ihn masslos bewunderte. Warum konnte ich nicht älter sein? Die Zeit verging im Tempo von Schnecken.
Wenn ich an meine Zeit in der Bez Turgi denke, dann vor allem auch daran, wie lustig sie war. Ich denke an meine ersten Verliebtheiten, an die Sporttage, das Tschutten: Lehrer gegen Schüler, die Schulwege als wir uns vor Lachen in die Wiesen legten, meinen ersten Verehrer auf seinem Puch Maxi. An Pfarrer Hort mit seinem schwarzen Hut auf seinem schwarzen Velo, mit oft falsch und schräg zugeknöpfter Weste. Er sagte «Bhüetdi Gott», wenn die Stunde vorbei war und er verursacht mir bis heute ein schlechtes Gewissen deswegen. Der Herrgott hatte ihn mit einer fatalen Gutmütigkeit geschlagen, die ihn daran hinderte, je das Wort zu erheben gegen seine pubertierenden Plagegeister und dem bösen Treiben im Unti ein Ende zu bereiten. Ich denke an den Chemielehrer, der immer «Mitnichten» sagte auf unsere Antworten. Und um das Vernichtende etwas abzufedern, fügte er «Mitneffen» hinzu. Ich denke an extra dumme Fragen einer Klassenkameradin bei der Vererbungslehre, «Mein Vater hat eine Glatze, mein Bruder nicht. Ist er vielleicht gar nicht mein Bruder?» Ich denke an den Mitschüler, der zu spät kam und sagte, er sei mitten beim Zähne putzen gewesen, als der Sanitär kam und den Wasserhahn abschraubte. Er hätte dann halt warten müssen, bis er den Mund spülen konnte. Ich denke an die Skilager, die Schulreisen und nochmals, an meinen Deutschlehrer, der sich Jahre später noch an meine Texte erinnern konnte. Er schrieb nämlich unter den Aufsatz meines Bruders: «Dafür bekommst du wenigstens noch ein genügend. Dank deiner Schwester. Sag ihr einen Gruss, für den gleichen Aufsatz gab ich ihr einmal einen Sechser.»
Und dann das Guckloch, unsere Schülerzeitung. Man räumte mir viel Raum ein, sie mit staatserhaltender Denke zu füllen. Da stand beispielsweise der Satz: «Der Mensch ist im Gegensatz zum Apfel nie reif genug, verfault dann aber trotzdem. Marianne Keller, 2a.»
Einmal schlug ich vor, mit René Deck ein Interview zu machen. René Deck war der Goalie von GC, später Nationalgoalie. Ich schwärmte sehr für ihn und hatte in mein Tagebuch ein Bild von ihm aus der Schweizer Illustrierten eingeklebt. Im Tor lag ein Ball und davor René Deck, mit einem unsäglich deprimierten Ausdruck. Dazu schrieb ich: Lieber René, ich würde dich gerne trösten (Was ja, by the way, nur zeigt, dass wenn Männer Gefühle zeigen, dies eben gar nicht so schlecht ankommt).
Ich sagte also zum Fausch: «Ich mache ein Interview mit René Deck.» Der sagte, das kannst du vergessen, wieso soll er mit dir ein Interview machen?» Ich sagte: «Wieso nicht?» Dann nahm ich das Zürcher Telefonbuch hervor, dort stand Deck, René, ich rief an, er nahm ab, ich sagte, ich sei von der Bez Turgi und würde gerne für unsere Zeitung ein Interview machen. Da Zürcher kaum wissen, was eine Bez ist, meinte er wohl, das sei eine Art Bezirksanzeiger. Er sagte sofort zu und zwei Tage später pilgerten wir zu viert an den Hardturm. Meine Freundin und ich, und weil wir wenig Ahnung hatten, was man einen Goalie so fragen könnte, nahmen wir noch zwei Spezialisten mit. Zwei Knaben aus der Klasse, die aber weitgehend stumm blieben. Deck war sichtlich erstaunt über das journalistische Kindergartenpersonal, das der «Turgemer Bezirksanzeiger» entsendete, stellte sich dann aber mit grosser Geduld unseren Fragen. Eine weiss ich noch, sie hiess: «Herr Deck, wenn sie wieder einmal einen Ball nicht halten konnten, was geht da in Ihnen vor?» Er sagte: «Was heisst «wieder einmal»? So oft passiert das nun auch nicht gerade.» Ich hatte ein Kassetten-Tonband dabei, ausgerüstet mit frischen Batterien. Als René Deck am Schluss hören wollte, was er da gesagt hatte, merkte ich zu meinem Entsetzen, der Laustärkeregler war auf null gestellt. Der Goalie seufzte, anerbot sich jedoch, alles nochmals aufzunehmen. Ich versicherte ihm, ich hätte alles auswendig im Kopf. Das hat man dem Interview danach auch angemerkt. Es kam sehr fantasievoll daher. Decks Antworten waren geradezu poetisch.
100 Jahre Bezirksschule Turgi. Das 50-Jahre- Jubiläum hatte ich 1971 noch erlebt. Ich durfte im Rahmen jener Feierlichkeit, sogar auch ein Gedicht aufsagen, das ich selber geschrieben hatte. Es fing so an: «Weisst du, wie langsam die Zeit vergeht und wie sie immer wieder stille steht…» Das Lebensgefühl eines Kindes halt. Heute weiss ich, kaum fängt die Zeit an zu laufen, vergeht sie im Fluge. Doch die Erinnerung bleibt beständig und lebendig.
Ich gratuliere Ihnen, Ihrem Lehrkörper, den Schulbehörden, uns, den Ehemaligen und den heutigen Schülerinnen und Schülern zu unserer Schule. Möge sie auch das 150-Jahre-Jubiläum feiern. Und mögen all diejenigen, die es erleben werden, jenen, die es nicht mehr tun, dazu gehöre ich schliesslich auch, irgendwo und irgendwann davon erzählen.
Es lebe die Bez Turgi.
Ich danke Ihnen.