Ich spreche über ein Thema, das mich als CVP-Politikerin ausserordentlich bewegt, nämlich über die politische Tradition der Schweiz, über die Konkordanz und damit verbunden im Besonderen über die Rolle des politischen Zentrums. Und wenn ich dies schon zu Beginn des Jahres 2015 machen kann, eines wichtigen, eines schicksalhaften Jahres, eines Wahljahres, dann verbinde ich das Thema auch gleich mit einer Wahlbotschaft für die CVP.
Verzeihen Sie mir den dramatischen Einschlag, wenn ich von Schicksal spreche im Zusammenhang mit unserer Partei und dem Wahljahr. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Land und seine Gesellschaft, dass unsere direkte Demokratie die staatstragende und verantwortungsbewusste Politik unserer Partei braucht. Ansonsten verändert sich die politische Tradition der Schweiz in ihren Grundfesten. Denn die politische Tradition der Schweiz wiederum entspricht dem Wesen der CVP. Es ist die Politik des Ausgleiches zwischen den Bedürfnissen, der Konsensfindung, des Pragmatismus. Es ist die Politik der Vielfalt, der Sensibilität für die Regionen, dem Verständnis für den Föderalismus.
Es ist aber auch die Politik, die dem Wesen des Stimmbürgers in unserer direkten Demokratie am meisten entspricht. Die Politik nämlich der differenzierten Betrachtung. Des manchmal auch ambivalenten Verhaltens. Der Politik des Abwägens. Die Bürger in der Schweiz sind bestens geschult, sich der Vielfalt der Argumente zu stellen und denken selten immer schwarz oder weiss. Sie denken eben wie die CVP, orange. Ja ich behaupte gar, die meisten Leute in der Schweiz sind in ihrem differenzierten politischen Wesen nach CVPler, nur ist ihnen das leider zu wenig bewusst. Oder wie erklären wir uns denn, dass die CVP nach wie vor die meisten Volksabstimmungen gewinnt? Dieses Bewusstsein wieder zu wecken ist die Aufgabe der Politiker dieser Partei.
Polittopographisch ausgedrückt besteht unser Land aus einem linken, einem rechten und einem Zentrumsgestein. Diese Dreiteilung und vor allem der starke Zentrumsbrocken unterscheidet das schweizerische Regierungssystem von sozusagen allen anderen Regierungssystemen der Welt. Wir haben kein Regierungs- und Oppositionsverständnis, sondern dasjenige der Konkordanz. Das heisst, die stärksten politischen Kräfte und Parteien finden zusammen Lösungen und dirigiert werden sie dabei von der Mitte aus. Dieses Konkordanzsystem ist in Gefahr, weil die ehemals grossen staatstragenden Parteien, die CVP und die FDP, an Kraft verloren haben.
Wenn ich das Bild mit dem Gestein verwende, so tue ich das, weil ich damit am besten veranschaulichen kann, wie die politischen Kräfte spielen. Wer anderen Kräften standhalten will, muss eine gewisse Festigkeit aufweisen, er muss Druck aushalten können. So reicht es leider nicht, dass der Zentrumsblock nach wie vor der voluminöseste ist und nach wie vor etwa 35% der schweizerischen Politlandschaft ausmacht, es geht um seine Konsistenz. Das traditionell pragmatische staatstragende politische Zentrum ist bröcklig geworden. Porös durch die vielen neuen Parteien mit noch ungefestigten Parteiprogrammen, welche sich hier ansiedeln. Dass damit die konstruktive Arbeit immer wieder zwischen den Fronten aufgerieben wird, ist Physik.
Ich habe das durch meinen Job in Bern immer wieder erlebt, und ich erlebe es heute im Grossen Rat des Kantons Aargau. Gute Lösungen gehen nicht bachab, weil links und rechts mal da, mal dort in die Opposition gehen. Denn Opposition, finde ich, liegt gewissermassen in ihrer Natur. Gute Lösungen gehen bachab, weil links und rechts zusammen in die Opposition gehen und den Kompromiss zusammen torpedieren. Gute Lösungen gehen bachab, weil die Mitte als geeinte Kraft nicht mehr in der Lage ist, entweder mit links oder mit rechts eine stabile Mehrheit zu bilden. Sie ist zu zersplittert.
Ein eindrückliches Beispiel ist für mich nach wie vor das Zustandekommen der Ausschaffungsinitiative, an deren Umsetzung wir immer noch vergeblich herumlaborieren. Da hatten die beiden ehemals traditionell grossen bestimmenden Parteien, die CVP und die FDP im Parlament einen Gegenvorschlag ausgearbeitet, der mit dem Völkerrecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang stand. Die Linke hatte den Gegenvorschlag unterstützt, ja sogar tatkräftig eigene Forderungen aufgeladen. Gemeinsam hätte man diesen Gegenvorschlag durchgebracht. Doch dann wechselte die Linke plötzlich die Meinung und empfahl den Gegenvorschlag zur Ablehnung. Damit machte sie sich zur Helfershelferin der SVP-Ausschaffungsinitiative und verhalf ihr zum Durchbruch. Die politische Mitte war kalt gestellt. Das nennt man Blockadepolitik.
Ähnliches haben wir eben im Grossen Rat erlebt bei der Vorlage zur familienergänzenden Kinderbetreuung. Sie ging der SVP zu weit, der SP zu wenig weit. Was tat die SP? Sie versenkte zusammen mit der SVP einen Kompromiss – übrigens einen Kompromiss, den unsere Grossrätin Theres Lepori wesentlich geprägt hatte – einen Kompromiss, der tragfähig gewesen wäre. Die SP versenkte ihn im vollen Bewusstsein, dass die so dringend notwendige familienergänzende Kinderbetreuungssituation im Aargau einmal mehr auf die lange Bank geschoben würde. Motto: Wieso auch konstruktiv, wenn man sich destruktiv viel besser profilieren kann. Ich nenne solches Arbeitsvernichtungspolitik. Und es ist nicht die Politik, die man von einem Parlament erwartet.
Alt Bundesrat Arnold Koller sagte kürzlich in einem Interview, das Problem liege darin, dass die Parteien nur noch sich selber sähen. Die Kompromissbereitschaft, ein wesentliches Element unserer Konkordanzdemokratie, sei weitgehend verloren gegangen. Die Parteien suchen die Profilierung, jedoch nicht den Konsens. Er findet es besorgniserregend, dass in dieser Legislatur 22 bundesrätliche Vorlagen im Parlament abgelehnt wurden. Ebenfalls entscheide das Volk immer häufiger gegen die Empfehlungen von Bundesrat und Parlament. Für ihn ist das ein Zeichen dafür, dass das Parlament für die dringenden Probleme, die die Bürger beschäftigen, nicht mehr rechtzeitig akzeptable Lösungen findet. Das Parlament befinde sich in einer strukturellen Krise, auf gewissen Gebieten sei es nicht mehr handlungsfähig, geschweige denn berechenbar. Jüngstes Beispiel: die gescheiterte Kartellgesetzrevision. Deshalb, sagt unser CVP-alt Bundesrat, hätten wir jetzt einen Reformstau bei verschiedenen Projekten und aus Frust über die tatenlose Politik würde das Volk auch vermehrt über extreme Initiativen abstimmen.
Auch wenn ich mir einen kleinen Vorbehalt erlaube gegenüber alt Bundesrat Kollers Kritik am Parlament – ich finde, Parlamentarier sind nicht einfach nur Gehilfen der Regierung, um Mehrheiten muss man sich halt auch bemühen, und wenn eine Regierung wie die heutige eher Mitte-links orientiert ist, das Parlament jedoch Mitte-rechts ausgerichtet ist, kann das ja nicht gut gehen, wenn der Bundesrat in eine andere Richtung stürmt – auch wenn ich mir also diesen Vorbehalt erlaube, empfehle ich Ihnen das höchste lesenswerte Buch unseres ehemaligen CVP-Magistraten. Es heisst «Aus der Werkstatt eines Bundesrates» und ist eben gerade vor dem Eidgenössischen Wahljahr erschienen. In diesem Buch schlägt er denn einen Konkordanzvertrag vor. Da die Konkordanz nicht mehr so spiele wie früher, müsse sie über einen Vertrag der wählerstärksten Parteien wieder zum Tragen kommen. Darin müssten die Parteien die ausgehandelten Kompromisse zu den wichtigsten Vorlagen festhalten. Das schaffe berechenbare Verhältnisse für Bundesrat und Parlament. Mit einer Mehrheitssuche von Fall zu Fall wie sich momentan die politische Situation darstelle, sei es weitgehend dem Zufall überlassen, wohin die Schweiz steuert. Das Volk möchte, dass «die in Bern» sich zusammenraufen und Lösungen für das Land finden.
Ich pflichte ihm vollkommen bei. Denn die anstehenden Projekte der neuen Legislatur, die Koller aufzählt, sind beeindruckend. Rentenreform, Asylreform, Steuerreform, Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, Weiterführung der Bilateralen, um nur einige zu nennen. Es kann nicht sein, dass die Lösungsbilanz des Parlamentes dieser kommenden Legislatur ähnlich mager daherkommt wie in der jetzigen.
Es tönt einleuchtend, dass die Bundespolitik berechenbarer werden muss. Umso bemerkenswerter für eine Partei wie die CVP ist die Schlussfolgerung des Journalisten in der Zeitung, in welchem das Koller-Interview erschienen ist. Wörtlich: «Es ist nicht alles schlechter als früher, als Koller Bundesrat und SP und SVP Juniorpartner von CVP und FDP waren». Und dann: «Die Politik ist unberechenbarer, dafür auch spannender geworden.» Man muss sich diesen letzten Satz einmal vergegenwärtigen! Er heisst: Lösungsorientierte Politik ist langweilig. Destruktive spannend. Oder anders ausgedrückt: wir schreiben gerne darüber, dass ihr unfähig seid, Lösungen für dieses Land zu finden. Doch falls ihr Lösungen findet, haben wir nichts mehr zu schreiben. Oder nochmals anders ausgedrückt: Was für die Schweiz ärgerlich ist, ist für uns Medienschaffende lukrativ. Oder nochmals anders ausgedrückt: Wo liegt der Reiz für uns, wenn wir nicht darüber schreiben können, was ihr für Pfeifen seid?
Selbstverständlich überspitze ich, doch ich glaube, dass die Medien die Brisanz und das Spektakuläre einer Konkordanzdemokratie und somit der Bedeutung der Mittepolitik falsch einschätzen. Vor allem auch für sich selbst und vor allem auch zu ihrem eigenen Schaden! Denn diese Zentrumspolitik entspricht in ihrer differenzierten Sichtweise, ja manchmal halt auch ambivalenten, eben auch den Ansprüchen der Medienschaffenden, vorab jenen der Printmedien. Ich beobachte deshalb immer mit einem gewissen Befremden seit Jahren, wie ausgerechnet diese Eigenschaften der Mitteparteien, allen voran der CVP mit beissender Kritik bedacht werden. Die Krokodilstränen der NZZ-Redaktion werden von einer Quelle gespiesen, die gewissermassen aus der NZZ selbst sprudelt. Wer den Verlust des Liberalismus beklagt und der Vielfalt, hätte vielleicht vorher schon ein paar Gedanken darüber verschwenden sollen, wer diese Prinzipien in der Schweiz aufrecht erhält. Die Konkordanz, die politische Tradition der Schweiz zu schützen, heisst aufmerksam zu verfolgen, auf wen man setzen kann. Und dass sich FDP und CVP auch noch aufs Dach geben, können wir uns sowieso nicht mehr leisten, wenn die Mitte wieder an Kraft gewinnen soll.
Wer also nur die Polparteien zu Wort lässt, unterschätzt die Bürgerinnen und Bürger in einer direkten Demokratie. Sie sind anspruchsvoller als Journalisten meinen. Und vor allem ist die lösungsorientierte Politik spannender als sie annehmen. Es bräuchte mehr Verständnis von den Medien her. Doch ebenso wie wir hier Verständnis einfordern, braucht es ebenfalls Verständnis für die Anliegen der Medien aus der Warte der Mitteparteien. Wir müssen heute anders kommunizieren. Die Medienwelt hat sich verändert, der Ton ist schärfer und der Konkurrenzdruck ist grösser geworden. Es ist nicht mehr so wie zu den Zeiten Arnold Kollers im Bundesrat als sich CVPler und FDPler bequem zurücklehnen konnten und alle anderen tatsächlich deren Juniorpartner waren. Dass man als sakrosankt anschaute, was CVP und FDP diktierten. Dass unser Denken das kollektive bestimmte. Dieses Selbstverständnis hat sich seit der EWR-Abstimmung und dem sagenhaften Aufstieg der SVP verändert. Das heisst, auch CVPler und FDPler müssen sich um ihre Wähler bemühen, sich in die Wahlschlacht werfen, müssen ihre Kommunikation – nicht zu verwechseln mit dem Denken – müssen also ihre Kommunikation und die Strategien anpassen.
Kommunikation anpassen heisst beispielsweise offensiver sein. Die eigenen Themen besser verkaufen. Das Rahmengesetz zur familienergänzenden Kinderbetreuung, das ich vorher erwähnt habe, wurde massgebend von der CVP geprägt. Dass es im Grossen Rat versenkt wurde, nehmen wir nicht einfach hin und wir werden dazu eine Initiative lancieren.
Strategien anpassen heisst unnachgiebiger sein. Wieso die eigene Position, die ja bereits ein Kompromiss ist, nicht vermehrt öffentlich und proaktiv als klare Forderung servieren, anstatt hinter verschlossenen Türen Kompromisse auszuarbeiten, die dann von den Polparteien entweder als Sieg verkauft werden oder grossartig versenkt vor unseren langen Gesichtern. Die anderen sollten sich die Zähne an uns ausbeissen, nicht wir an ihnen.
Die Kommunikation anpassen heisst beispielsweise auch pointierter werden. Provokativer. Angriffiger. Wenn wir schon das Wesen der meisten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger am besten erfassen, nämlich das differenzierte Denken, dann kann er auch erwarten, dass wir dieses ebenso gut verteidigen wie die holzschnittartigen Positionen. Wir müssen mehr auch rhetorischen Kampfgeist und rhetorische Schlagkraft entwickeln. Die politische Auseinandersetzung soll Lust bereiten. Gerade in einer Demokratie, in welcher sich die Bürger direkt in die Schlacht werfen und keine politische Berufsarmee wollen.
Ich komme zurück zum Schicksalshaften dieses Wahljahres und somit auch zum Schluss dieser Rede. Wer in einer Familie lebt mit einer Leidenschaft für Politik kann es nicht vermeiden, bei Recherchen im Internet zur CVP-Politik auch auf die Publikationen des eigenen Vaters zu stossen. Er hat einen Artikel geschrieben über den heiligen Benedikt von Nursia. Ich möchte Ihnen eine Stelle daraus nicht vorenthalten. Selbstverständlich nicht, weil ich hier unbedingt meinen Vater zitieren muss, sondern weil seine Worte tatsächlich gescheit sind. Der Artikel ist betitelt mit Mass und Mitte und mein Vater, Toni Keller, zitiert einige der «Regula benedicti», beispielsweise «Alles geschehe nach Mass» und «Das Mass ist die Mutter aller Tugenden». Benedikt mache deutlich, dass der Mensch über die Geistesgabe der Unterscheidung verfügt und so in der Lage sei, im konkreten Fall das richtige Mass zu finden. Diese Fähigkeit des Menschen sei für Benedikt grundlegend. Die Suche nach dem richtigen Mass sei die Suche der Mitte, die Suche des Ausgleichs, die Vermeidung des Extremen. Die Extreme lehnt Benedikt als lebensfeindlich ab.
Das ist ein Plädoyer für die CVP-Politik. Und es ist auch ein Plädoyer für die schweizerische Politik, der das Extreme nicht liegt. Das Extreme ist der politische Systemfeind. Es wird unsere Aufgabe sein, mit der CVP-Politik im Wahljahr die Wähler zu überzeugen, um das Erfolgsmodell Schweiz zu bewahren.
Wir werden immer wieder von selbsternannten Politpropheten und -experten, eine Gilde, die wie Pilze aus dem Boden schiesst, darüber belehrt, dass wir unsere historische Aufgabe erfüllt hätten, nämlich die erfolgreiche Integration der Katholiken in diesen Bundesstaat. Dass dieser Prozess abgeschlossen ist, ist wohl allen klar, doch dass damit die Werte der CVP keine Rolle mehr spielen, ist mehr als unlogisch (Auch der Liberalismus hast sich schliesslich festgesetzt, deshalb ist der Freisinn auch nicht überflüssig geworden…). Wer sich mit der Geschichte der Schweiz auseinandersetzt, stellt fest, dass die politische Stabilität dieses Landes auf denjenigen Werten beruht, welche die CVP am eindrücklichsten vertritt (Vielfalt, Föderalismus, Subsidiarität, Ausgleich, Sensibilität für die Minderheiten, konkordantes Verhalten). In diesem Sinne ist CVP-Politik in ihrem christlichen und schweizerischen Charakter hochmodern und zukunftsgerichtet.
Masshalten gilt nicht zuletzt beim Reden: «Den Weisen erkennt man an den wenigen Worten.» (RB 7.61) steht auch noch in der Regula benedicti. Wie weise ich also bin, müssen Sie gemäss der Menge dieser Worte beurteilen.
Ich freue mich auf den Wahlkampf für die CVP. Ich danke Ihnen für Ihre Verbundenheit und für die Arbeit für die CVP, die politische Seele der Schweiz. Ich wünsche Ihnen allen ein gutes, ein gesundes, ein zufriedenes, ein glückliches, ein erfolgreiches Neues Jahr. Mögen Ihre Wünsche in Erfüllung gehen.
Ich danke Ihnen.